23.03.2023

Fachkräftesicherung in Deutschland: Kein Bock auf Arbeit?

Die Fachkräftesicherung ist ein dringliches Thema in Deutschland, da viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, geeignete Mitarbeiter zu finden. Ein häufig diskutiertes Problem ist dabei die vermeintliche Arbeitsunlust junger Menschen. Doch ist es wirklich so, dass die junge Generation keinen Bock auf Arbeit hat?

Vater und Sohn arbeiten gemeinsam im Schreinerbetrieb.

Der Fachkräftemangel in Deutschland ist eine Herausforderung für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des umlagefinanzierten Rentensystems. Ihre Strategien zur Fachkräftesicherung, geplante Gesetzesvorhaben sowie Hürden bei der Umsetzung arbeitspolitischer Maßnahmen, haben erst kürzlich sowohl der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) als auch die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles in Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern und der allgemeinen Öffentlichkeit geteilt. 

Streit um Bundeshaushalt 2024

Hauptstreitpunkt in der Ampel-Koalition ist derzeit die Haushaltsplanung für 2024. Das Bundesfinanzministerium muss die Mittel bereitstellen, um die vielfältigen Herausforderungen der »Zeitenwende« zu finanzieren, aber auch Investitionen in Bildungs- und Chancengerechtigkeit vornehmen.

Im Interview mit RND warnt der Bundesarbeitsminister in diesem Zusammenhang: 

Man darf die äußere Sicherheit nicht gegen den sozialen Zusammenhalt im Inneren ausspielen. 

Denn fest steht laut Heil weiterhin:

Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung für unser Land. Hier müssen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam ran. Wenn wir nicht alle Register ziehen, fehlen uns bis 2035 bis zu sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte. 

Anreize für mehr Arbeitsbeteiligung

Um Arbeitskräfte zu mobilisieren, müssten deshalb alle Potenziale im Inland gehoben werden. Kontinuierliche Weiterbildung und Inklusion von Frauen, Menschen aller Altersgruppen der Erwerbsfähigkeit sowie Menschen mit Beeinträchtigungen sind wichtige Maßnahmen, um mehr Arbeits- und Fachkräfte verfügbar zu machen.

Geplant sind u.a. eine Ausbildungsgarantie für junge Menschen und die Schaffung der sogenannten Bildungszeit sowie die Vereinfachung der Anerkennung von Berufsabschlüssen ausländischer Arbeitskräfte (u.a. soll die Anerkennung der Berufsqualifikationen von Fach- und Arbeitskräften in Zukunft erst nach Antritt der Arbeitsstelle in Deutschland erledigt werden müssen; es reichen ein Arbeitsvertrag und eine anerkannte Qualifizierung aus dem Heimatland).

Mehr Frauen in Arbeit

Vor allem im Bereich der Frauenerwerbsbeteiligung sieht der Bundesarbeitsminister noch deutliche Handlungsspielräume:

Wenn das Arbeitszeitvolumen von Frauen, die oft ungewollt Teilzeit arbeiten, um 10 Prozent höher wäre, wären das pro Jahr 400.000 Arbeitskräfte mehr. 

Braucht es „mehr Bock auf Arbeit“?

Kritisch kommentiert BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter das Phänomen des Fachkräftemangels in Deutschland. In einem Interview mit table.media schilderte er seine Sorgen um die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland. Um weiterhin Wirtschaftsmotor der EU sein zu können, brauche es laut Kampeter vor allem Engagement in folgenden drei Bereichen:

  1. Schulsystem
  2. Zuwanderung
  3. Fortbildung

Gleichzeitig fordert der Verbandschef einen Bewusstseinswandel in der Politik, die sich in der derzeitigen Debatte vor allem auf die Bedingungen des Nicht-Arbeiten konzentriere. 

„Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit“

Geschäftsmodell Deutschland auf den Prüfstand

Die hohe Wertschöpfung, die Deutschland in der Vergangenheit Wohlstand gesichert hat, sei nur durch harte Arbeit begründet und müsse als solche stärker gewürdigt werden (Plädoyer für das Arbeiten). Der BDA-Hauptgeschäftsführer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer kulturellen Entfremdung:

Ich befürchte, die ganze Gesellschaft hat durch staatliche Fürsorge, durch Rettungsprogramme, Doppel-Wumms und alle möglichen Formen der staatlichen Abfederung vergessen oder verlernt, dass das Geld auch erwirtschaftet werden muss. Dass es am Ende von unser aller eigener Leistung abhängt. Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit. 

Der Bundesarbeitsminister spielt den Ball sogleich zurück: 

Dass wir Arbeit und Leistung brauchen und die anerkennen müssen, ist klar. Um im Sprachbild zu bleiben: Die Menschen haben Bock auf anständige Arbeitsbedingungen unter einem Tarifvertrag und auf anständige Bezahlung. Es ist kein Zufall, dass es besonders in Bereichen mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen schwer ist, Arbeitskräfte zu finden.

An einem Strang ziehen

Fakt ist, dass es zu kurz gegriffen ist, wie das BMAS glauben zu machen sucht, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber seien selbst schuld am Fachkräftemangel. Wer das vollständige Interview des Arbeitgeber-Chefs liest, wird feststellen, dass sich „respektlose Belehrungen“ (Heil) über mangelnde Arbeitsmoral hier eher nicht auffinden lassen, wohl aber nützliche Impulse aus der Wirtschaft, wie man das Problem in einem gemeinsamen Schulterschluss lösen könne:

Wir als Arbeitgeber müssen und wollen doch für alle mehr bieten. Und wir strengen uns hier im Übrigen auch an, um den veränderten Wünschen der Beschäftigten entgegenzukommen. Wir bieten flexible Arbeitszeitmodelle, vergünstigte ÖPNV-Tickets und und und… Es geht um Tablets, remote work, flexible Arbeitszeiten. Selbst in der Fertigung, wo Homeoffice nicht geht, arbeiten wir längst mit Drei-Schichten-Modellen, Vertrauensarbeitszeit und so weiter und so fort.

400.000 Zuwanderer jährlich, um Fachkräftemangel zu bekämpfen

Experten zufolge braucht Deutschland jährlich 400.000 Zuwanderer, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Wie will die Bundesagentur für Arbeit dieser Herausforderung begegnen? Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Agentur für Arbeit und ehemalige Bundesarbeitsministerin sprach im Podcast von "#handwerkumzwoelf" über Strategien zur Bewältigung des Arbeitskräftemangels in ihrem Verantwortungsbereich.

Schulische Ausbildung und Berufsförderung stärken

Ähnlich wie Arbeitgeber-Chef Kampeter sieht Nahles die Themen schulische und betriebliche Ausbildung im Zentrum der Bemühungen um qualifizierten Nachwuchs. Berufe, in denen ein besonders großer Fachkräftemangel herrscht, müssten attraktiver gemacht werden, um mehr Menschen dafür zu begeistern. Außerdem fänden wieder mehr Praktika statt, die wegen der Corona-Pandemie lange Zeit kaum möglich waren. In der Regel gilt: Je mehr Praktika realisiert werden, desto mehr Eintritte in die duale Ausbildung erfolgen.

Studienabbrecherquote senken

Berufsfördernde Maßnahmen sollen an Förderschulen und Gymnasien ausgebaut werden. Bislang sind Handwerksbetriebe bei der Rekrutierung von Nachwuchskräften hauptsächlich unter Absolventen der Mittelschulen erfolgreich. Dies soll sich in Zukunft ändern, auch mit Blick auf die in einigen Bundesländern hohen Studienabbrecherquoten, will die BA frühzeitig für mehr Sicherheit bei der Berufswahl sorgen bzw. kooperiert gleichzeitig mit Universitäten und Hochschulen bei der Neuorientierung bereits Studierender.

Migration als Gesellschaftsaufgabe

Der Wandel der deutschen Gesellschaft u.a. durch Migration muss laut Nahles zudem in einer stärkeren Sprachförderung zum Ausdruck kommen. Dies gilt sowohl für die schulische Ausbildung als auch für den Erwerb von Sprachkenntnissen auf dem zweiten Bildungsweg. Digitalisierung und Automatisierung bei der Einwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten sei ein weiterer Handlungsbereich für einen nachhaltig stabilen Arbeitsmarkt.

Wir haben Bock!

Erfolge auf diesem Weg sollten an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Etwa 80.000 Sprachkursabsolventen werden laut BA ihre Kurse im Mai 2023 beenden und stehen anschließend dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Gleichzeitig verspreche ein entbürokratisiertes Qualifizierungs- Chancengesetz Entlastung für kleine Betriebe. 

Zur Erinnerung: Mit dem Qualifizierungs-Chancengesetz werden seit Inkrafttreten 2019 Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitnehmende gefördert, die sich für andere Bereiche qualifizieren wollen. Arbeitnehmende oder Arbeitgebende können den Antrag auf Förderung bei der Arbeitsagentur stellen. Während der Weiterbildung zahlen die Jobcenter Zuschüsse.